Rede der Angehörigen Judith Elam aus Hawaii

Folgende Rede hielt Judith Elam bei der Gedenkveranstaltung zur Stolpersteinverlegung in der Thomasiusstraße am 24. Juni 2015

Hallo an alle, die Ihr hier versammelt seid,

Ich bin richtig glücklich, wieder hier zu sein, zurück in Berlin und wieder ververeint mit meinen Berliner Freunden.

Es ist wirklich eine Ehre für mich, aus Anlass der dritten Stolpersteinverlegung hier zu Euch zu sprechen. Für die von Euch, die mich noch nicht kennen, ich bin Judith Elam. Ich bin in London als Tochter zweier Holocaust-Überlebender geboren. Meine Mutter lebt noch, sie ist in Leipzig geboren und mein Vater hier in Charlottenburg. Meine Großeltern und drei meiner Urgroßeltern wurden ebenfalls in Berlin geboren. Ich habe tatsächlich mehr als hundert Vorfahren und Verwandte, die hier auf jüdischen Friedhöfen in Weißensee, Schönhauser Allee und in der Großen Hamburger Straße begraben worden sind. Meine Familiengeschichte in Berlin reicht sechs Generationen zurück. Sie beginnt im Jahr 1671, als es 50 jüdischen Familien erlaubt wurde, sich in Berlin anzusiedeln – als sogenannte Schutzjuden. Sie hatten eine besondere Abgabe dafür zu entrichten, dass sie bestimmte Geschäfte betreiben und Berufe ausüben durften, und für das Recht, zu Hause ihre Religion auszuüben. Unter diesen 50 Familien waren meine Großeltern in der siebenten Generation – rückwärts gezählt. Ab 1812 durften Juden in Preußen Bürgerrechte erwerben und erhielten damit dem Buchstaben nach dieselben Rechte wie ihre nichtjüdischen Nachbarn. Und sie wurden aufgefordert, ebenso Familiennamen anzunehmen. So war meine Ur-Ur-Ur-Großmutter, die damals als eine von zwanzig Juden in Spandau lebte, unter dem Namen Täubchen NATHAN bekannt. Seitdem ist der Familienname NATHAN über die nächsten fünf Generationen weitervererbt worden. NATHAN ist so auch mein Mädchenname.

Meine Familie machte ihr Glück in Berlin wie so viele jüdische Familien. Und wie die meisten deutschen Juden waren sie gute Patrioten und fühlten sich in erster Linie als Deutsche und erst in zweiter Linie als Juden. Mein Großvater hatte im Ersten Weltkrieg für den Kaiser eine halbe Lunge geopfert. Ironischerweise war es dieser deutsche Patriotismus, der meinen Großeltern das Leben rettete. 1942 wurden sie nach Theresienstadt deportiert, aber ein Nazi-Wachsoldat gab ihnen jeden Tag eine Scheibe Brot aus Respekt vor dem Patriotismus meines Großvaters – und diese Scheibe Brot war es, die sie rettete und am Leben hielt. Meine Urgroßmutter, die mit ihnen deportiert worden war, verhungerte dagegen.

Mein Vater, Max Heinz NATHAN, besuchte die jüdische ORT-Schule in der Siemensstraße in Charlottenburg und erwarb an dieser Schule Kenmintnisse im Klempnerhandwerk, in anderen Techniken und im Schweißen. Diese Fähigkeiten sollten ihm das Leben retten. Das war die einzige Schule, die für eine Weile mit Erlaubnis der Nazis betrieben werden durfte, da sie sich einen Vorteil von den Fähigkeiten der Schüler versprachen. Mein Vater war mit achzehn Jahren schon zu alt für den Kindertransport. Aber er hatte großes Glück.Er war einer von hundert jüdischen Männern, die im März 1939 dazu bestimmt wurden, nach England zu gehen, damit das übervolle Lager entlastet und ausgebaut werden konnte. Dieses Lager war bald darauf mit über 4000 jüdischen Männern belegt, die ihnen nach England folgen sollten, während ihre Angehörigen in Nazi-Deutschland weiter gefangen blieben.

Wir alle kennen das Datum 9. November 1938. Kristallnacht. In Leipzig versteckte sich mein Großvater Peisech Mendzigursky auf dem Dachboden der Familienwohnung. Meine Mutter tief erschrocken brachte ihm Essen hinauf, blieb eine Weile bei ihm, kam wieder hinunter und stellte die Leiter weg. Nach vier Tagen glaubten meine Großeltern, dass die Gefahr vorbei sei, und Peisech kletterte vom Dachboden wieder hinunter. Aber die SS kam zurück und deportierte ihn nach Buchenwald. Dort wurde er sechs Wochen lang zum Holzfällen gezwungen, kehrte dann aber wieder zurück. Als er wieder in Leipzig ankam, war er so abgemagert und sein ganzer Körper war mit Wunden bedeckt. Die Nazis hatten ihn misshandelt – oder . . . hatten ihm etwas zur Erinnerung an das Lager mitgegeben – wie sie es nannten. Er hatte den Befehl, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen, sonst würden sie ihn beim nächsten Mal totschlagen. Damit begann für Juden ein Wettlauf gegen die Zeit. So wie alle Eltern war es das Wichtigste für die Großeltern, die Kinder in Sicherheit und damit aus Deutschland herauszubringen. Der Abreisetag für den letzten Kindertransport aus Leipzig fiel auf den 8. August 1939. Für meinen Großvater Peisech war es zu gefährlich, die Wohnung zu verlassen.. Als der Zug langsam den Bahnhof Leipzig verließ, winkte meine Großmutter allein ihren geliebten Töchtern zum Lebewohl hinterher. Sie hatte ihnen eingeschärft : Lernt, lernt, lernt, sie können euch alles wegnehmen, nicht aber das, was in euren Köpfen ist. Meine Mutter erinnerte mich und meine Schwester immer wieder an diese Worte, und sie haben als ein Mantra mein Leben weiter bestimmt. So verließen meine Mutter und ihre Schwester Deutschland mit dem Kindertransport in Richtung England, dort wurden sie von ihren Kusinen aufgenommen. Mein Großvater konnte bald nachkommen, er erreicht England am 31. August – genau einen Tag bevor Deutschland in Polen einmarschierte. Dieser eine Tag rettete sein Leben. Ein tragisches Schicksal dagegen ließ wahrscheinlich meine Großmutter zusammen mit ihrer jüngsten Tochter Etti Lea nach Riga deportieren, im Januar 1942. Es gibt aber keine Hinweise auf die Ankunft des Transportes dort. Meine Mutter versuchte ihr ganzes Leben hindurch, genaueres über ihr Schicksal in Erfahrung zu bringen. Aber alles, was wir wissen, ist, dass sie unterwegs in dem Viehwaggon gestorben sind.

Meine beiden Eltern litten in England furchtbar darunter, dass sie nicht wussten, wie es ihren Eltern und Familien in Nazi-Deutschland weiterhin erging. Gleichzeitig mussten sie sich in ihrem neuen Leben behaupten und eine neue Sprache lernen, und das in einem fremden Land, das sich jetzt im Krieg befand. Meine Mutter und meine Tante erhielten nur drei kurze Briefe von meiner Großmutter Frieda – und dann kein Lebenszeichen mehr. Frieda berichtete nie etwas über sich selbst, sie war nur besorgt darüber, wie es ihren Geliebten Süßen Kindchen ging.“ Seid Ihr sonst brav, ist man mit Euch zufrieden?“ Meine Mutter Feige konnte ihre Ausbildung nicht fortsetzen und musste in einer Fabrik arbeiten, Gasmasken herstellen. Niemand hatte ihr je das Nähen beigebracht, aber irgendwie wusste sie, wie es ging. Sie war gerade fünfzehn Jahre alt und völlig auf sich gestellt. Ihr Vater war zweimal interniert, und ihre Schwester war an Tuberkulose erkrankt und wurde zur Behandlung in ein Sanatorium auf dem Land geschickt. So war keine Kommunikation zwischen ihnen möglich.

Ich hatte eine schwierige Kindheit. Mein Vater starb plötzlich, als ich elf Jahre alt war. Und wir waren furchtbar arm. Ich entsinne mich daran, wie meine Mutter über ihrer Nähmaschine einschlief, als sie Kleider für uns nähte und reparierte. Sie war im orthodoxen Judentum aufgewachsen, hatte aber bald nach dem Krieg aufgehört, ihren Glauben zu praktizieren. Sie sagte, „ kein Gott kann so etwas wie den Holocaust zulassen“. Und so gingen wir nie in die Synagoge oder erlebten jüdische Gebräuche. Und ich lernte nie hebräisch. Manchmal fragte ich mich, ob wir wirklich Juden seien, weil wir nie in die Synagoge gingen. Ich war sehr verunsichert. Aber ein Erlebnis bestimmte meine Erinnerung : meine Mutter prägte mir und meiner Schwester fest ein, niemals in der Öffentlichkeit über unser Judentum zu sprechen. Wenn sie jemand Deutsch sprechen hörte, ließ sie die Angst wie gefrieren. Diese Angst und die Paranoia vor allem Deutschen hat sie ihr ganzes Leben nicht verlassen.

Es ist sehr belastend, unter solchen Bedingungen aufzuwachsen, mitzuerleben, wie die eigene Mutter von ihrer Erinnerung gequält wird, und sie von dieser Qual nicht befreien können. Zu fühlen, wie sie sich als Überlebende dafür schuldig fühlt, dass ihre Großeltern, ihre Mutter und ihre kleine Schwester nicht überleben durften und stattdessen grausam ermordet wurden.

Sie hat mich Judith Ellen genannt – Ellen nach ihrer kleinen sieben Jahre alten Schwester, Etti Lea. Ich konnte es früher nie verstehen, weshalb sie mich Ellen genannt hatte, nach einem Menschen, der ermordet worden ist. Nach allem würde mich dieser Name mein Leben lang begleiten. Aber mittlerweile verstehe ich es, es war der einzige Weg, auf dem meine Mutter die Erinnerung an ihre kleine Schwester bewahren konnte. Alles, was sie noch von Etti Lea besaß, war ein kleines vergilbtes Photo, das bis heute an der Wand gegenüber ihrem Bett hängt. Wie die meisten Überlebenden erzählt meine Mutter nur wenig von der Vergangenheit, sie ist zu schmerzlich. Aber bei einem Thema wird sie richtig laut, wenn das Gespräch darauf kommt – sie hasst Deutschland, sie hasst die Deutschen und sie würde nie mehr einen Fuß auf deutschen Boden setzen.

Sie werden verstehen, dass es unmöglich für mich war, andere Gefühle gegenüber Deutschland und den Deutschen zu haben als meine Mutter. Dabei wusste ich tief in meinem Herzen, dass die meisten Deutschen heute noch gar nicht in dieser fürchterlichen Zeit geboren waren und deshalb auch keine Schuld an den Verbrechen trugen.

Aber im August 2008 passierte etwas, das meinen Lebensweg änderte. Ich hörte in der BBC, wie Annie, meine Freundin aus Kinderzeiten, interviewt wurde und erzählte, was sie und ihre Mutter und die Familie mütterlicherseits als Wiener Juden erlebt hatten. Ich war zutiefst aufgewühlt, das Zuhören schmerzte mich sehr. Und dann plötzlich hörte ich eine weibliche Stimme in mir sagen, sehr klar „Judy, Du musst die Wahrheit über Deine eigene Familie herausfinden“. Am nächsten Tag setzte ich mich an meinen Computer – und ich habe seitdem mit dieser Arbeit nicht mehr aufgehört. Ich habe soviel über meine Familiengeschichte herausgefunden und über meine unglaublichen Vorfahren. Es war extrem schmerzhaft, die Einzelheiten des Holocaust zu erfahren und von den Hunderten meiner ermordeten Verwandten. Über Monate hatte ich Alpträume von Nazis, die mich verfolgten. Ich dachte, „ Ich kann das nicht weiter machen. Ich werde noch verrückt“, aber meine Vorfahren schoben mich die ganze Zeit immer weiter. Und dann fand ich heraus, dass ich in direkter Linie von einem der berühmtesten Juden, König David, abstammte, und das machte einen gewaltigen Eindruck auf mich. Er ist also mein Großvater – hundert Generationen zurück. Auch von seinem Sohn, dem berühmten König Salomon stamme ich ab. Ich fühlte, dass das Blut aus einem bestimmten Grund durch meine Adern floss – diesen Grund galt es herauszufinden. Ich fing an, die Synagoge in Maui zu besuchen und engagierte mich in der Jüdischen Gemeinde. Ich begann, die Jüdischen Feiertage zu feiern – und ich fand Gefallen daran. Ich sprach erste jiddische Worte aus und Redensarten meiner Mutter. Ich begann mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich als Jüdin zu fühlen – unabhängig von der tragischen Vergangenheit meiner Familie.

Dann beschloss ich, sieben Stolpersteine für meine ermordeten Verwandten legen zu lassen. Der letzte Stein war für Walter Weisstein im Juli 2012. Walter war der Kusin 2. Grades meines Vaters. Dabei wusste ich nicht, dass Walters Stein zu dieser Zeit der einzige Stolperstein in der Thomasiusstraße war. Ich hatte mir gewünscht, auch einen für seine Frau Lotte legen zu lassen, aber das war nicht möglich. Ich konnte nicht wissen, dass Oliver Geiger auf der Straße stehengeblieben war, um die Inschrift auf Walters Stein zu lesen, und dass er davon tief bewegt wurde. Genauso wenig wusste ich von dem Funken, der einen „Flächenbrand“ in der Thomasiusstraße auslöste und damit ihre Bewohner den Beschluss fassen ließ, gemeinsam ein Zeichen der Erinnerung an ihre früheren jüdischen Nachbarn zu setzen. Als ich dann Olivers erste Email im November 2013 erhielt, war ich erst einmal sprachlos. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Hier streckte mir ein Deutscher seine Hand entgegen – im Namen einer ganzen Gruppe von Menschen aus der Thomasiusstraße. Freundliche, sensible Menschen, die begangenes Unrecht wieder gutmachen wollten – das berührte mich zutiefst, dass ich überwältigt war und mir Tränen in den Augen standen.

In den folgenden Monaten begann ich, Oliver durch Emails kennenzulernen. Ich wartete schon regelmäßig gespannt auf seine schönen Emails, die voller Sensibilität und positiver Gefühle waren. Gleichzeitig begann ich mit anderen Menschen, die an dem Projekt in der Thomasiusstraße beteiligt waren, zu korrespondieren und versuchte ihnen zu helfen, noch lebende Verwandte der ermordeten Juden zu finden. Ich war jedes Mal überglücklich, wenn wir dabei Erfolg hatten. Ich bin stolz darauf, dass wir einen Beitrag zu diesem bewundernswerten Projekt leisten und so die heutigen Verwandten der Opfer auf eine so bewegende und eindrucksvolle Weise zusammenbringen konnten. Da haben sich Freundschaften ergeben, die wahrscheinlich für das künftige Leben halten werden. Dieses Projekt hat das Leben so vieler Menschen bleibend verändert. Wir alle teilen jetzt Erinnerungen, die wir nie vergessen werden.

Und dann kam der Moment, in dem Oliver mich fragte, warum kommst Du nicht nach Deutschland, nach Berlin? Er schrieb mir, „ Du bist eine Deutsche, vergiss das nicht. Deine Familie hat viele hundert Jahre hier in Deutschland gelebt. Und gleichzeitig bist Du auch eine Jüdin.“ Diese Worte haben mich sehr beeindruckt. Wie Ihr seht, habe ich mich immer nur als Jüdin begriffen, nicht aber als deutsche Jüdin von der väterlichen oder als polnische Jüdin von der mütterlichen Seite her. Jetzt gab mir Oliver eine neue Identität, und sie fühlte sich ungewohnt an, aber gut. Und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich über die Möglichkeit einer Reise nach Deutschland ohne ein Gefühl des Hasses oder der Angst nachdenken, stattdessen mit einem Gefühl der Liebe und Freundschaft. Jetzt wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich antwortete, ja, ich werde kommen. Ich wollte jetzt sehen, wo und wie meine Familie vor dem Holocaust gelebt hatte. Ich wollte meine Wurzeln spüren. Und ich wollte Euch und die Nachbarn aus der Thomasiusstraße kennenlernen.

Und so startete ich am 11. September letzten Jahres von Maui, Hawai, meiner jetzigen Heimat zu einer Reise nach Deutschland. Ich gebe es offen zu, ich war schon etwas unruhig, als ich von zu Hause abflog, und unsicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte – besonders in dem Moment, als das Flugzeug zur Startbahn rollte! Aber ich war dazu bestimmt, meinen Davidstern um den Hals zu tragen und mir selbst, meiner Familie und meinen jüdischen Freunden zu beweisen, dass dieses Deutschland ein neues und für Juden sicheres Deutschland ist und dass der Davidstern nicht mehr gelb ist und das Wort „Jude“ trägt. Und dass ich auf den Straßen dort ohne Angst als selbstbewusste Jüdin gehen konnte – aber war das wirklich so? Da war der Krieg in Israel und Gaza im letzten Sommer, und dann diese furchtbaren und abstoßenden, gewalttätigen Angriffe auf Juden in ganz Europa, diese schrecklichen anti-israelischen Demonstrationen, auch in Berlin. Sie machten mir Angst und beunruhigten mich. Aber ein Gedanke hielt mich aufrecht, „meine Familie hat ihre Angst besiegt, sie hatte keine andere Wahl, und ich muss es ebenso tun“. “Wenn sie es schaffen konnten, dann ich auch“. Und ich wollte all die vielen Menschen, die mich hier in Deutschland erwarteten, nicht enttäuschen. Ebenso nicht die Freunde und meine Familie, die mich zu Hause und in der ganzen Welt so sehr unterstützt hatten. Eine enge Freundin gab mir damals mit auf den Weg, „Du machst diese Reise stellvertretend für uns alle“. Und dieses Jahr machte Sie mir Mut, „diese Rede hältst Du für uns alle“.

Und ich muss zugeben, es war die richtige Entscheidung. Ich habe nie zuvor solch eine Reise unternommen. Aber sobald ich Peter Sauers Lächeln auf dem Frankfurter Flughafen sah, war ich sicher, alles würde in Ordnung gehen. Und als ich Rita und Heinz lächelnd auf dem Berliner Hauptbahnhof sah, wusste ich sofort, dass ich hier wundervolle Freunde gefunden hatte. Sie waren die besten Gastgeber, die ich mir erhoffen konnte, und ich bin ihnen dankbar dafür, dass ich mich in ihrem schönen Heim so willkommen geheißen fühlen konnte. Rita begleitete mich fast überallhin   und nahm Anteil an meinen oft widersprüchlichen Gefühlen. Jeder Tag meiner Reise im letzten Jahr war eine Berg und Tal Fahrt mit Tränen, Freude und Lachen – angefangen von der Beklemmung am Holocaust Denkmal, der Trauer über den Stolpersteinen, der Betroffenheit vor den Wohnhäusern, in denen meine Familie gelebt hatten und aus denen heraus sie deportiert worden waren, bis zu der Freude, Rosh Hashanah, das jüdische Neujahrsfest, in der wunderbaren Synagoge in der Rykestraße miterleben zu können, zusammen mit meiner neuen Familie, Ollie, Rita Palla, Rita Buenemann und meiner lieben Freundin Ines. Dazu kam die Freude über ein Treffen mit meinem „neuen“ Kusin 2. Grades und seiner Frau Hana, die extra die Reise von Israel unternommen hatten, um mich zu sehen. Und der Stolz, eine Ehrentafel für meinen Ururgroßvater Dr. Bernhard Weiß enthüllen zu dürfen, der früher als Stadtarzt in Oranienburg gearbeitet hatte. Dabei kam ich mir wie ein Filmstar vor, als sich der Bürgermeister, ein Reporter und eine große Zuhörerschar meine Worte in sehr schlechtem Deutsch anhörten. Und das Gelächter, als mir Ollie die Stelle zeigte, an der Hitlers Bunker einmal stand – heute aber Müll und Hundekot herumliegt, Hitlers letzte Hinterlassenschaft! Ich erinnere mich an jeden Augenblick meiner Reise im letzten Jahr als sei es gestern gewesen. Ich habe das Gefühl, als ob ich wieder nach Hause gekommen bin. Wie Ihr seht, bindet mich nichts an England, obwohl ich dort geboren bin. Ich bin keine Engländerin, ich bin Deutsche und ich bin Polin – aber vor allem werde ich immer Jüdin sein. Und Ihr alle habt mir dabei geholfen, mich als Deutsche und als Jüdin zu fühlen, ohne das Gefühl der Angst, dafür mit den Gefühlen von Stolz und Liebe.

Heute kann ich mir nicht vorstellen, etwas anderes als Jüdin zu sein. Juden haben mit ihrer Philantropie, ihrer Intelligenz und ihrem Erfindungsreichtum soviel zu unserem menschenwürdigen Dasein beigetragen, und das durch alle Zeiten. Dennoch waren Ende 1945 zwei Drittel der europäischen Juden ausgelöscht, ermordet. Wie sähe die Welt heute ohne die Juden aus? Sie wäre völlig leer und unwirtlich, als ob ihr das Herz aus der Brust herausgerissen sei. – Und wie sieht die Realität für Juden heute in Europa aus? Die Angriffe auf Juden werden immer gewalttätiger und zahlreicher, auch auf Synagogen und jüdische Friedhöfe, zuletzt auf einen koscheren Supermarkt in Paris. Und wie sieht es in Berlin aus? So hat mir im letzten Jahr der Gemeinde-Rabbiner Shaul Nekrich erzählt, dass er nicht mehr in Berlin mit der Kippa auf der Straße unterwegs sein kann. Es sei zu gefährlich. Das ist nicht akzeptabel und macht mich wirklich traurig. Es erinnert uns alle wieder an die Nazi-Zeiten. Und mich an die Verfolgungsängste meiner Mutter. Viele Juden haben das Gefühl, dass Hitler sein Ziel, Europa judenfrei zu machen, in absehbarer Zeit doch noch erreichen könnte – nur 75 Jahre später, weil die tief verunsicherte Juden schließlich nach Israel fliehen.

Deutschland und die Menschen aus der Thomasiusstraße haben unglaubliches geschafft, indem sie das Andenken an die Holocaust-Opfer als unvergessen bewahrt haben. „Niemals wieder“ sagen wir alle. Aber was können wir dafür tun, dass dieses „Niemals wieder“ auch wirklich NIEMALS WIEDER geschieht? Die meisten der ashkenasischen Juden in Israel heute sind Nachfahren von Holocaust-Opfern oder Überlebenden. So wie wir die ermordeten Juden aus der Thomasiusstraße ehren und an sie erinnern, sollten nach meiner Überzeugung ihre Nachkommen geehrt und unterstützt werden, wo immer sie leben, einschließlich ihrer jüdischen Heimat Israel. Israel ist und wird es immer bleiben, das lebendige Herz des jüdischen Volkes. Oder wie mein Kusin feststellte, „Israel ist aus der Asche von Auschwitz geboren, beides kann man nicht voneinander trennen, keine Macht der Erde kann das“. Israel ist der sichere Hafen, in den Juden fliehen, wenn sie sich wieder einmal an ihrem Wohnort nicht sicher oder willkommen fühlen. Israel ist der Ort, an dem Rabbi Nekrich seine Basecap endlich auf den Müll werfen und die Kippah tragen kann. Ich habe oft darüber nachgedacht, was die ermordeten Juden aus der Thomasiusstraße wohl sagen würden, wenn sie hier sprechen könnten. Ich glaube, sie würden sagen, herzlichen Dank, ihr lieben Menschen, für die Gewissheit, dass Ihr Euch auch in Zukunft in Ehren an uns erinnert. Ihr habt eine wunderbare Aufgabe übernommen, darauf könnt ihr stolz sein, so wie wir stolz auf euch sind. Wenn wir weiter auf diesem Weg der Freundschaft vorangehen, haben wir die Hoffnung, dass eines Tages Juden in Deutschland hundertprozentig sicher sind und wir keine Wachen mehr vor jedem jüdischen Gebäude brauchen. Wir hoffen, dass dann unsere Kinder und Enkel sagen werden, in Deutschland hat der Holokaust begonnen, aber Deutschland ist auch der Ort, wo das „Niemals wieder“ Wirklichkeit geworden ist.

Ich danke Euch aus meinem Deutschen und Jüdischen Herzen heraus für alles, was Ihr getan habt und dafür, dass Ihr mich heute hierher gebracht habt.

(Übersetzung des Originaltextes aus dem Englischen)