Stolpersteinverlegung in der Jagowstraße

Am 4. Dezember 2017 wurden wieder Stolpersteine für Verwandte von Prof. Benjamin Gidron durch Gunter Demnig in Moabit verlegt. Mehr als 40 heutige Bewohnerinnen und Bewohner der Jagowstraße 20 und der umliegenden Häuser, Freunde und Bekannte der Familie, Mitglieder des Vereins „Sie waren Nachbarn“ und in anderen Erinnerungsinitiativen Engagierte, Spenderinnen und Spender und zufällig vorbeikommende Passanten nahmen an der Zeremonie teil. Dr. Ariela Gidron und ihre Tochter Tamar Malka waren dazu eigens aus Israel angereist.

Nach der Begrüßung durch Susanne Torka von „Sie waren Nachbarn“ begleitete Franz Knoernschild mit seiner Klarinette die Gedenkfeier.
Ariela Gidron verlas dann die Rede ihres Mannes, Benjamin Gidron, der zu seinem großen Bedauern nicht selbst anwesend sein konnte in Englisch. Er skizzierte darin den Lebenslauf von Therese Hirsch, geb. Lewin und ihres Mannes Elias, die in der Jagowstraße 20 gewohnt und gearbeitet haben, bis sie 1938 vor den Nazis nach Kolumbien fliehen mussten.
Wir geben hier die deutsche Übersetzung wieder:

„Elias Hirsch wurde 1888 in Ottorowo, einer kleinen Stadt in der Region um Posen geboren. Er erlernte das Bäckerhandwerk. Während des Ersten Weltkriegs war er Soldat in der kaiserlichen Armee.
Therese Lewin wurde 1893 als älteste Tochter von Isidor und Jenny Lewin in New York geboren. Die jung vermählten Lewins waren 1891 von Bromberg in die Vereinigten Staaten gegangen, um ihr Glück in dem Land zu machen, wo die „Dollars auf den Bäumen wachsen“. Sie begriffen schnell, dass die Realität anders aussah und kamen 1894 mit ihrem Baby nach Bromberg zurück, das einen Schatz sein Eigen nannte: einen amerikanischen Pass.

Elias und Therese heirateten während des Ersten Weltkriegs in Mogilno, wo Thereses Eltern lebten und gingen nach ihrer Hochzeit nach Berlin. Sie lebten in Moabit in der Jagowstraße 20, wo Elias eine Bäckerei eröffnete. Er spezialisierte sich auf die Herstellung von Donuts. Sie hatten keine Kinder. Er war fromm und engagierte sich in der Synagoge in der Levetzowstraße.

1938 wurde Elias von den Nazis verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Während dieser Zeit – vielleicht aber auch schon davor – versuchte Therese, die einen amerikanischen Pass hatte, für Elias ein Visum für die Vereinigten Staaten zu bekommen, hatte aber keinen Erfolg. Schließlich gelang es ihr, für sie beide Visa für Kolumbien zu erhalten. Mit deren Hilfe und vermutlich einem erheblichen Geldbetrag konnte Therese Elias am 29. Juli 1938 aus Buchenwald befreien. Einen Monat später verließen sie Deutschland und ließen sich in Cali in Kolumbien nieder, wo sie mehr als 10 Jahre blieben. Damit entkamen sie dem Schicksal, das den Rest ihrer Familien ereilte.

Elias und Therese emigrierten 1949 nach Israel und fanden dort Thereses Schwester Emma – meine Großmutter – wieder. Elias eröffnete in Haifa eine kleine Bäckerei. 1955 starb er an einem Herzinfarkt. Therese, oder Tessy, wie wir sie nannten, war eine sehr warmherzige Person. Da sie keine eigenen Kinder hatte, kümmerte sie sich sehr um die Kinder und Enkel ihrer Schwester und nahm an allen Familientreffen und -ferien teil. Sie arbeitete als Kindermädchen bei einer prominenten Familie in Haifa, die eine behinderte Tochter hatte. Dieses Kind liebte sie sehr. Es betrachtete sie als seine Großmutter. Tessy starb 1979 in Haifa. Sie nahm viele Informationen über unsere Familie mit ins Grab, die ich bedauerlicher Weise nicht von ihr erfragt habe, als sie noch lebte.

Das Gedenken an Elias und Therese an diesem Ort, von dem aus sie 1938 fliehen mussten und wohin sie – auch nicht für einen Besuch – nie mehr zurückgekommen sind, schließt einen Kreis. Wir danken dem Verein „Sie waren Nachbarn“ für sein Engagement, das der Erinnerung an alle unsere Familienmitglieder, die hier in Moabit lebten, dient.“